Definition Illett­ris­mus

Illettrismus als gesell­schaftliches Phäno­men und persönliche Situation

Illettrismus beschreibt das Phänomen, dass in Gesellschaften mit langjähriger Schulpflicht zahlreiche Menschen nicht über jene Lese- und Schreibkompetenzen verfügen, die allgemein erwartet und gefordert werden. Die Teilnahme am gesellschaftlichen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Leben wird dadurch eingeschränkt. Illettrismus kann wie folgt von Analphabetismus abgegrenzt werden:

Analphabetismus bezeichnet die Situation von Menschen, die nie lesen gelernt haben und die Zeichen des Alphabets nicht kennen. Der Begriff Illettrismus hingegen bezieht sich auf die Tatsache, dass in Gesellschaften mit langjähriger Schulpflicht viele Menschen nicht über jene Grundkompetenzen verfügen, die ihnen die obligatorische Schule hätte vermitteln sollen. Definition aus dem Wörterbuch Schweizer Sozialpolitik, Carigiet 2003

Allgemein lässt sich festhalten, dass von Illettrismus betroffene Menschen nicht das geforderte Niveau erreichen, um den beruflichen und privaten Alltag selbstständig problemlos bewältigen zu können. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass die Erwartungen und Anforderungen an einzelne Personen sehr unterschiedlich sind. Sie hängen vom Beruf, dem Ausbildungsgrad, dem gesellschaftlichen Status und weiteren Faktoren ab. Weiter werden Lese- und Schreibschwierigkeiten von den Betroffenen selbst unterschiedlich wahrgenommen. Der individuelle Leidensdruck variiert in Abhängigkeit von den persönlichen Lebensumständen. Ob sich eine Person von Illettrismus betroffen fühlt, hängt zum einen davon ab, in welchem Ausmass sie den gesellschaftlichen, beruflichen und sozialen Erwartungen entsprechen kann und zum anderen, ob sie selbst in ihrem Handlungsspielraum eingeschränkt ist und dies so wahrnimmt.

Gleichzeitig beschreibt Illettrismus ein komplexes Phänomen, das wesentlich durch gesellschaftliche Entwicklungen und Normen charakterisiert ist. Nur wenige Menschen – darunter oft auch die Betroffenen selbst – sind sich bewusst, dass Menschen, die hier zur Schule gegangen sind, Schwierigkeiten mit Lesen und Schreiben haben können. Das Phänomen Illettrismus ist daher weitgehend unbekannt und stark tabuisiert. Nicht zuletzt durch neue Informations- und Kommunikationstechnologien sind die Anforderungen an unsere Lese- und Schreibfertigkeiten in fast allen Bereichen des Lebens stark gestiegen. Dementsprechend ist es schwieriger geworden, diese Anforderungen in allen Lebenslagen zu erfüllen, was Betroffenen die Teilhabe in Beruf, Alltag und Gesellschaft erschwert oder gar verunmöglicht. Die Gefahr, von relevanten Lebensbereichen ausgeschlossen zu werden, hat im Laufe der letzten Jahrzehnte deutlich zugenommen.

Der Begriff Illettrismus wird heute demnach auf zwei verschiedene Arten gebraucht: als Bezeichnung einer gesellschaftlichen Herausforderung sowie als Beschreibung der Situation einzelner betroffener Personen. Ursachen und Folgen sind auf beiden Ebenen zu finden. Das Phänomen muss daher aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und angegangen werden.

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Literaturhinweise:

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Grotlüschen, Anke, Buddeberg, Klaus, Dutz, Gregor, Heilmann, Lisanne, Stammer, Christopher. 2019. LEO 2018 – Leben mit geringer Literalität. Pressebroschüre, Hamburg, abrufbar unter: zur Website.

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Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innvoation SBFI. 2023. Orientierungsrahmen Grundkompetenzen im Bereich Sprache, abrufbar unter: Zur Website. 

Weitere verwendete Literatur

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