Ursachen

Lesen und Schreiben sind kom­plexe Fähig­keiten

Lesen und Schreiben gehören zu den komplexesten Fähigkeiten, die ein Mensch in seinem Leben erlernt. Der Lernprozess dauert viele Jahre und ist grundsätzlich nie abgeschlossen, denn die Lese- und Schreibkompetenz kann auf verschiedenen Niveaus beherrscht werden. Das Erlangen von Lese- und Schreibfertigkeiten erfordert viel Übung, Motivation und Durchhaltevermögen. Nicht alle Menschen haben und hatten die Möglichkeit, diese Fähigkeiten in ihrer Kindheit und/oder Jugend zu erwerben. Ein oder mehrere Faktoren können dazu führen, dass der lange Lernprozess (oft von Anfang an) nicht reibungslos verläuft:

  • Biographie: kritische Lebensereignisse, ungünstiger familiärer Hintergrund, Armut usw.
  • Persönlichkeit: Konzentrationsschwierigkeiten, Entwicklungsdefizite, fehlende Kommunikationsmöglichkeiten usw.
  • Gesundheit: Absenzen durch lange Krankheit, usw.

Freude und Selbstvertrauen durch Erfolgserlebnisse, die Unterstützung durch Eltern und Lehrkräfte, die Wertschätzung des Lesens in der Familie und im weiteren persönlichen Umfeld sind – neben anderen – weitere wichtige Voraussetzungen, die nicht immer gleichermassen gegeben sind. Werden die Fähigkeiten im Bereich des Lesens und Schreibens nicht ständig genutzt und weiterentwickelt, können sie ausserdem verlernt werden.

Wie all diese Faktoren zeigen, sind die Ursachen für Illettrismus sehr vielfältig und die Kombination bei Betroffenen oftmals einzigartig. Daher ist auf jeden Fall von monokausalen Erklärungsansätzen abzusehen.

Tabuisierung führt zu Alternativ­strategien

Oft führt eine ungünstige Kombination der genannten Faktoren dazu, dass negative Gefühle oder eine ablehnende Haltung im Zusammenhang mit Lesen und Schreiben entstehen. Diese kann zu einer gefährlichen Abwärtsspirale führen: Betroffene können die Erwartungen der Gesellschaft, Lehrkräfte, Arbeitgeber und/oder der Familie nicht erfüllen, dadurch entstehen Stresssituationen und/oder Schamgefühle. Die alltäglichen Anforderungen überfordern Betroffene. Das ständige Erleben der Unsicherheit und Misserfolge wirkt demotivierend und führt zu schwindendem Zutrauen in die eigenen Lernfähigkeiten. Die gesellschaftliche Tabuisierung und Stigmatisierung der Thematik verhindern, dass offen über Schwierigkeiten gesprochen wird und Lösungsansätze gesucht oder verfolgt werden. Betroffene Menschen beginnen dann typischerweise Alternativstrategien zu entwickeln und verheimlichen ihre Schwäche(n), vermeiden belastende Situationen oder delegieren entsprechende Aufgaben weiter. Statt an ihren Lese- und Schreibfertigkeiten zu arbeiten, weichen sie entsprechenden Herausforderungen aus, statt den Fortschritten nehmen die Defizite zu. Ob diesen Schwierigkeiten frühzeitig begegnet werden kann, hängt in den meisten Fällen vom sozioökonomischen und soziokulturellen Hintergrund der Familie, von den Möglichkeiten der Lehrkräfte in der Schule und von persönlichen Stärken (Stressresistenz, Selbstvertrauen usw.) der betroffenen Person ab.

Lese- und Schreibschwierigkeiten werden allgemein zu wenig thematisiert. In vielen Fällen haben die Betroffenen das Gefühl, als Einzige von diesem Problem betroffen zu sein. Ihnen ist nicht bekannt, dass Lese- und Schreibfertigkeiten auch im Erwachsenenalter erworben werden können, mit entsprechenden Lernangeboten sind sie nicht vertraut. Auch Angehörige und andere Dritte sind in der Regel nicht ausreichend informiert und können die Betroffenen daher nicht unterstützen. Dies verdeutlicht die Relevanz einer stetigen Sensibilisierungsarbeit, um Angehörige und Betroffene über mögliche Auswege und Angebote aufklären zu können.

Wachsende Heraus­forderungen führen zu steigenden An­for­derungen

Neben ungünstigen Voraussetzungen oder Lebensumständen der Betroffenen sind die Ursachen für Illettrismus auch auf gesellschaftlicher Ebene zu finden. Dies trifft insbesondere auf die Auswirkungen bildungs- und gesellschaftspolitischer Trends zu. So war es noch vor wenigen Jahren möglich, ohne grosse Schriftsprachkompetenzen eine Arbeitsstelle zu finden. Durch den Einzug neuer Informations- und Kommunikationstechnologien sind die diesbezüglichen Anforderungen aber enorm gestiegen:

Die Beherrschung der Handschrift und des Tastaturschreibens, das Ausfüllen von Formularen, das Schreiben von Berichten, die Bedienung von Automaten und Geräten oder (die) Kenntnisse von Fremdsprachen sind heute oftmals ein Muss. Es ist schwieriger, eine Arbeitsstelle zu behalten, da rasch wandelnde Berufsbilder Anpassungswille und hohe Schriftsprachkompetenzen voraussetzen. Vor allem Menschen mit Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben fällt es in diesem Zusammenhang schwer, am Ball zu bleiben. Sie laufen Gefahr, den Anschluss zu verlieren. Zwar verfügen die meisten Menschen heute über tendenziell höhere Lese- und Schreibkompetenzen als noch vor wenigen Jahrzehnten, doch sind sie in einer sich schnell verändernden technologisierten Gesellschaft nicht automatisch besser gerüstet. Illettrismus beschreibt somit auch ein soziales Phänomen, das eng mit dem technischen Fortschritt (Automatisierung, Technologisierung, E-Government usw.) und allgemein steigenden Anforderungen einhergeht. Der Schrift kommt dadurch eine immer grössere Bedeutung zu.

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Literaturhinweise:

Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien (BASS), Jürg Guggisberg, Patrick Detzel und Heidi Stutz. 2007. Volkswirtschaftliche Kosten der Leseschwäche in der Schweiz, Hrsg. Bundesamt für Statistik, abrufbar unter: PDF-Dokument.

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Grotlüschen, Anke, Buddeberg, Klaus, Dutz, Gregor, Heilmann, Lisanne, Stammer, Christopher. 2019. LEO 2018 – Leben mit geringer Literalität. Pressebroschüre, Hamburg, abrufbar unter: zur Website.

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Weitere verwendete Literatur

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