Folgen für Betroffene

Betroffene Personen sammeln ihre ersten negativen Erfahrungen häufig in der Schulzeit, wo ihnen das Erlernen der Grundlagen in Mathematik und anderen verwandten Fächern (etwa Chemie oder Physik) übermässig schwerfällt. Dabei erfahren Betroffene Druck von allen Seiten: Das Selbstwertgefühl leidet, etwa weil Lehrer und Eltern den ausbleibenden Lernfortschritt bemängeln oder Gleichaltrige die Fähigkeiten oder gar die Intelligenz der Betroffenen in Frage stellen. Später folgen Schwierigkeiten im Alltag und Berufsleben, beginnend vom Ablesen der Uhrzeit bis hin zu Problemen bei finanziellen Angelegenheiten.

Betroffene Kinder und Jugendliche haben auf verschiedenen Ebenen mit Schwierigkeiten zu kämpfen, deren Folgen in der Regel bis ins Erwachsenenalter reichen. Die Rechenschwäche wirkt sich entsprechend von der Schulzeit bis ins Berufs- und Erwachsenenleben aus:

Kinder mit einer Rechenstörung zeigen häufiger psychische Auffälligkeiten als nicht-betroffene Kinder. Manche Auffälligkeiten (z.B. Aufmerksamkeitsdefizite) können unabhängig von der Rechenstörung auftreten. Depressive Symptome, aggressives Verhalten und Ängste sind möglicherweise eine Reaktion auf schulische Probleme und Misserfolgserlebnisse. Viele Kinder mit einer Rechenstörung entwickeln Mathe- und Prüfungsängste, die sich über Jahre hinweg manifestieren und zu einem allgemeinen Verweigerungsverhalten führen, wodurch die Leistungen auch in weiteren Fächern abfallen. nach Ise und Schulte-Körne 2013 in ihrer Fachpublikation «Symptomatik, Diagnostik und Behandlung der Rechenstörung»

Diese Ängste und Probleme haben für die Betroffenen im Berufsleben teils ernsthafte Auswirkungen. Sie betreffen nicht nur das (fehlende) Grundlagenwissen, sondern tangieren zudem das Selbstvertrauen sowie die beruflichen Perspektiven. Auch im privaten Alltag und der Freizeitgestaltung sind die Schwierigkeiten oft stark spürbar. Das Erfassen, Vergleichen und Benennen von Mengen und Zahlen fällt schwer, sei es beim Nachrechnen der Einkäufe, Führen des Haushaltbudgets, messgenauen Planen der Zimmereinrichtung oder Berechnen der Zutaten beim Kochen. Betroffene Personen geraten dabei nicht selten in einen Teufelskreis. Die Schwächen in den Rechenfertigkeiten wirken demotivierend und der überproportionale Aufwand zur Bewältigung kritischer Situationen raubt Energie. Dadurch wird ein Vermeidungsverhalten ausgelöst, welches letztendlich dazu führt, dass die Rechenschwäche nicht angegangen wird und die Folgen damit noch schwerer wiegen.

Dank der Digitalisierung können heute zwar vermehrt manuelle Rechenoperationen automatisiert werden, was die Folgen für Betroffenen potentiell abschwächt. Doch gerade auch hier bleiben grundlegende Rechenfertigkeiten von Bedeutung: Zum einen bedingt die Verlagerung der Rechenschritte an digitale Geräte (als Hilfsmittel), dass Eingaben korrekt zu erfolgen haben und Verarbeitungsprozesse zu überwachen sind. Zum anderen gewinnt Mathematik als «Kommunikationsmedium» an Bedeutung, da die Resultate automatisierter Prozesse interpretiert, auf Plausibilität überprüft und weitervermittelt werden müssen. Dies setzt ein Grundverständnis alltagsmathematischer Konzepte sowie eine effiziente Interpretation von Ergebnissen sowie von Grafiken und Tabellen voraus. Rechenfertigkeiten haben somit durch die Digitalisierung keineswegs an Stellenwert eingebüsst. Die Vielseitigkeit und Komplexität der heutigen Anforderungen an die Alltagsmathematik zeigen vielmehr auf, dass die hierzu benötigten Kompetenzen nicht mehr ausschliesslich im schulischen Rahmen erlernt werden können, sondern einer steten Weiterentwicklung bedürfen.

Der breiten Öffentlichkeit ist (ähnlich wie bei der Lese- und Schreibschwäche) nicht bekannt, dass auch in der Schweiz rund jeder zehnte Erwachsene trotz Erfüllung der obligatorischen Schulpflicht erhebliche Schwierigkeiten im Bereich der Rechenfertigkeiten hat. Betroffene sind im Alltag und Berufsleben vielfach eingeschränkt und neigen dazu, ihre Schwächen zu verbergen und entsprechenden Situationen auszuweichen. Ein ‘mangelndes Verständnis’ für Mathematik wird zwar gesellschaftlich weitgehend akzeptiert, doch Schwierigkeiten in alltäglichen Standardsituationen (etwa beim Abzählen von Objekten, Ausmessen von Räumen und Objekten oder Umrechnen von Mengenangaben) sorgen für Irritation und Unverständnis. Betroffene werden dadurch oftmals unbewusst gesellschaftlich ausgegrenzt und haben im Alltag zusätzliche Hürden zu überwinden.

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Literaturhinweise:

European Association for the Education of the Adults. 2018. The life skills approach in Europe, abrufbar unter: PDF-Dokument

Ise, Elena und Gerd Schulte-Körne. 2013. Symptomatik, Diagnostik und Behandlung der Rechenstörung. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 41(4):271–282. abrufbar unter: Zur Website.

Notter, Philipp, Claudia Arnold, Emanuel von Erlach, und Philippe Hertig. 2006. Lesen und Rechnen im Alltag: Grundkompetenzen von Erwachsenen in der SchweizNeuchâtel: Bundesamt für Statistik, abrufbar unter: Zur Website.

OECD. 2005. Definition und Auswahl von Schlüsselkompetenzen, abrufbar unter: PDF-Dokument

Weitere verwendete Literatur

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