Illettrismus-Tagung 2006:
Von anderen lernen

7. Juni 2006 in Aarau

Am Mittwoch, 7. Juni 2006, fand in Aarau die zweite Schweizerische Illettrismus-Tagung mit 160 Teilnehmenden statt. In Kooperation mit dem Bundesamt für Kultur setzte die Pädagogische Hochschule der FHNW (Forschungsschwerpunkt Zentrum Lesen) damit die Veranstaltungsreihe fort, mit welcher das Netzwerk zur Verbesserung der Schriftfähigkeit unter Fachleuten aus der Bildungsforschung, aus Schulen und Bibliotheken und der Erwachsenenbildungenger geknüpft wird. Dies mit dem Ziel, Informationen aus Forschung und Praxis besser zugänglich zu machen, von den Erfahrungen wechselseitig zu profitieren und die Massnahmen zur Bekämpfung des Illettrismus in der Schweiz vermehrt aufeinander abzustimmen. In Vorträgen, Diskussionsforen und einer Reihe von Ateliers wurden konkrete Projekte präsentiert. Die Beiträge der Tagung sind hier dokumentiert.

«Illettrismus» ist ein gesellschaftliches Phänomen, es verweist auf die Tatsache, dass es Erwachsene gibt, die Grundfertigkeiten des Lesens und Schreibens nicht beherrschen, und dies, obwohl sie die obligatorische Schule absolviert haben. Illettrismus unterscheidet sich insofern vom Analphabetismus, als letzterer Personen betrifft, die nie eine Schule besucht haben und also gar nie die Gelegenheit gehabt haben, lesen, schreiben und rechnen zu lernen.

Dass die Schriftfähigkeiten auch in unserem Land dringend verbessert werden müssen, hat die Forschung in den letzten Jahre deutlich hingewiesen. So hat vor einem Jahr die Studie (Adult Literacy and Lifeskills Survey) für die in der Schweiz lebenden Erwachsenen zu einem guten Teil bestätigt, was wenige Jahre vorher PISA für Jugendliche bereits festgestellt hatte: In verschiedenen getesteten Kompetenzbereichen (Lesekompetenz, Alltagsmathematik und Problemlösungsfähigkeit) zeigt sich, dass ein Fünftel der Jugendlichen bzw. ein Sechstel der Erwachsenen den alltäglichen Anforderungen nicht gewachsen sind.

Aufgrund dieser Ergebnisse besteht also ein dringlicher Handlungsbedarf – und dies gerade in einem hochindustrialisierten und auf schriftliche Kommunikation ausgerichteten Land; die Schweiz ist damit allerdings nicht allein. In mehreren europäischen Ländern existieren Konzepte für Massnahmenpakete sowie konkrete Erfahrungen mit deren Umsetzung – inwieweit sie für die Schweiz als Vorbild dienen können, wurde an der Tagung diskutiert.

In ihrer Einführung wiesen Andrea Bertschi-Kaufmann und Thomas Sommer auf die Bedeutung der Lesefähigkeit für die soziale Integration und auf die Notwendigkeit der nationalen Verständigung und Koordination sowie der internationalen Vernetzung hin. Lesen – dies wurde in den Plenarbeiträgen deutlich – hat verschiedenste Funktionen zu erfüllen. „Lesefreude“ ist in der Biographie gebildeter Menschen zentral, Peter Schmid, Präsident der FHNW, zeigte dies am eigenen Beispiel; „Lesefähigkeit“ gehört zu jenen Grundkompetenzen, welche die Volksschule allen zu vermitteln hat, wenn sie an ihrem Ziel der Chancengerechtigkeit festhalten will, betonte Christian Aeberli, Leiter der Abteilung Volksschule im Departement für Bildung, Kultur und Sport des Kantons Aargau. Lesen und Schreiben gehören aber nicht nur zum schulischen Programm, sondern sind sinnvollerweise auch Teil einer berufsorientierten Grundbildung, welche auf die steigenden gesellschaftlichen Anforderung reagieren muss – unter anderem mit Hilfe der Neuen Medien. In den deutschen Projekten APOLL www.apoll-online.de und @lpha www.die-alpha.de wurden spezifische Ansätze für die Arbeit mit Lernenden und Lehrenden entwickelt (Monika Tröster, Deutsches Institut für Erwachsenenbildung). Während in Deutschland der Weg über nationale Projekte gesucht wird, arbeitet man im französischsprachigen Teil Belgiens mit assoziativen Netzwerken, deren Akteure die Weiterbildungsarbeit unter sehr unterschiedlichen Voraussetzungen leisten (Catherine Bastyns, Lire et Ecrire Belgique francophone). Im Bereich der Erwachsenenbildung liegt in Belgien also eine Struktur vor, mit welcher sich die Schweiz am ehesten vergleichen kann.

Problemlagen und Massnahmen, die in unserem Land angezeigt sind, diskutierten die Fachleute anschliessend in vier parallelen Foren, die je auf einen für die Sicherung der Schrift zentralen Bereich ausgerichtet waren: die Frühförderung (wozu auch die Elternbildung gehört), die Volksschule, die Berufliche Weiterbildung und die Erwachsenenbildung, in welcher insbesondere die Vereine Lesen und Schreiben für Erwachsene engagiert sind.

In den sieben Ateliers des Nachmittags – mit Beiträgen aus der Romandie, der Deutschschweiz und aus Deutschland – konnten sich die Tagungsteilnehmenden zu neuen Forschungsprojekten informieren lassen, bekamen Einblick in verschiedene Projekte zur Leseanbahnung und zum Spracherwerb in Kinderkrippen und Vorschule, zur Leseförderung in vielsprachigen Schulen, zu Methoden des Erwerbs von Strategien für das Textverständnis in Kursen für Erwachsene und zu neuen Herausforderungen und Chancen von neuen Technologien in der Alphabetisierung und Grundbildung.

Wie wichtig es ist, die verschiedenen Bildungsbereiche näher zusammenzuführen und konzertiert zu handeln, machte Silvia Grossenbacher, Stellvertretende Direktorin der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung in ihrem Überblick zu den Ergebnissen der Forumsdiskussionen deutlich. Jean-Frédéric Jauslin, Direktor des Bundesamts für Kultur, zeigte sich zum Schluss zufrieden mit den Ergebnissen der Tagung; die Bemühungen zur Sicherung der Schriftfähigkeit, sie müssten – so Jauslin – allerdings weitergehen.

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